Die beiden hatten nur den Sport im Kopf“, sagte der Vater einmal über seine Söhne: Michael und Uli Roth. Die Zwillingsbrüder aus Leutershausen gehörten zu den besten Handballern Deutschlands. Gemeinsam gewannen sie 1984 die Silbermedaille bei den Olympischen Spielen in Los Angeles und wurden Deutsche Meister. Während Uli nach seiner Sportkarriere Manager der erfolgreichen Popgruppe Pur wurde, blieb Michael dem Handball-Geschäft treu. Heute ist er erfolgreicher Trainer der MT Melsungen. „Olympia war ein tolles Erlebnis. Es war eine Medaille, die aus dem Nichts kam. Es ist ein Ereignis, das in seiner Intensität für immer hängen bleibt“, schwärmt Michael Roth noch heute.
Leben auf der Überholspur
Lange Zeit führten die beiden ein „Leben auf der Überholspur“, wie Roth es nennt. Sie galten als Lebemänner, kein Fest fand ohne sie statt: „Wir liebten und lieben die Frauen. Die anderen wussten, dass es scheppert, wenn wir feiern.“ Doch das änderte sich schlagartig: Fast zur gleichen Zeit erhalten beide die Diagnose Prostatakrebs. Die Zwillinge sind erst 47 Jahre alt. Das war im Jahr 2009.
„Die Krankheit kam aus dem Nichts“, sagt Roth. Eigentlich hätte er vorgewarnt sein müssen. Bereits 2005 hatte er sich routinemäßig untersuchen lassen, und es waren erhöhte PSA-Werte festgestellt worden. Doch die Beschwerden vergingen wieder. „Über den Stress und die Arbeit habe ich es einfach vergessen“, sagt Roth, der damals Trainer bei der SG Kronau/Östringen war.
Mit seinem Wechsel im Jahr 2009 als Trainer zur HSG Wetzlar, ließ er sich wieder routinemäßig durchchecken. „Für mich ist es selbstverständlich, meinen Körper regelmäßig kontrollieren zu lassen“, sagt Roth. Eine Verantwortungshaltung, die dem Sport geschuldet ist. Auch die PSA-Werte wurden abermals kontrolliert. Höchste Zeit, wie das Ergebnis zeigte: „Mein Arzt sagte sofort, dass das nicht gut aussieht, dass die Wahrscheinlichkeit für ein bösartiges Karzinom bei fünfzig Prozent liegt“, erzählt Roth.
Neue Lebenseinstellung
„Ich will alles wissen, die ganze Wahrheit, so schnell wie möglich“, sagte er damals und stimmte sofort einer Biopsie zu. Die bestätigte den Verdacht: „Ich glaubte an mein Todesurteil. Es war der schlimmste Moment meines Lebens.“ Plötzlich war die Leichtigkeit verschwunden. An die Arbeit als Trainer war nicht mehr zu denken: „Ich war psychisch nicht mehr in der Lage, eine Mannschaft zu betreuen. Ich kann niemanden motivieren, wenn es mir nicht gut geht. Man muss auch ein Ego für das eigene Leben und die eigene Gesundheit entwickeln.“ Mannschaftsarzt Hubert Seggewiß war es, der dem Team Michaels Ausstieg mitteilte: „Ich hatte einfach nur Tränen in den Augen.“
Eines war jedoch nicht verschwunden: der Kampfgeist. Michael Roth drängte auf eine baldige Operation, ließ sich über Methoden und Risiken aufklären, holte sich verschiedene Meinungen ein: „Ich wollte es so schnell wie möglich weg haben.“ Sich für den richtigen Arzt zu entscheiden, sei nicht einfach gewesen: „Das ist Vertrauenssache. Man braucht einen Könner, der weiß, was er tut.“ Denn die möglichen Nachwirkungen einer Prostata-Operation können dauerhaft bleiben: Inkontinenz und Impotenz. „Ich habe vorher nicht gewusst, wie unterschiedlich die Methoden sind“, sagt er.
Doppelte Betroffenheit
Am Abend vor der Operation erwachte wieder der Lebemann in ihm: Zwei Gläser Rotwein – Gran Reserva – gönnte er sich. „Das war erlaubt“, erzählt Roth. „Aber zunächst habe ich die beiden Gläser auf meinem Nachttisch fassungslos angestarrt, und dann zügig gelehrt.“ Am nächsten Tag war das Karzinom nicht mehr da – „ein Lebensabschnitt ist zu Ende gegangen“, sagt Roth. Doch einen Wermutstropfen gab es in diesen Stunden: Er erfuhr, dass sein Bruder ebenfalls an Prostatakrebs erkrankt ist.
So ist das Leben von Zwillingen: Nicht nur Keuchhusten oder Masern durchlebten sie im Gleichschritt, sondern auch die schwerste Phase ihres Lebens. „Wir haben uns immer die Stange gehalten, immer unterstützt, miteinander gelacht und gelitten. Wir haben ein sehr enges Verhältnis“, sagt Roth. Der Erfahrungsaustausch hat den beiden gut getan: „Es war ein Schock, obwohl wir geahnt haben, beide betroffen zu sein.“ Ob das genetisch bedingt ist, sei nicht bewiesen. Um die Wissenschaft bei dieser Frage zu unterstützen, nehmen die beiden Brüder an einer Studie der Uniklinik Hamburg-Eppendorf teil. Aufklärung ist Michael Roth eine Herzensangelegenheit geworden.
Obwohl er zunächst nichts davon hielt, etwas über seine Erkrankung nach außen zu tragen – was schwer für einen Menschen ist, der als Trainer im Rampenlicht steht – entschied er sich später, gemeinsam mit seinem Bruder ein Buch zu schreiben. Man sprach damals von einer Harnwegserkrankung. „Ich wollte nicht in die öffentlich Ecke des Krebskranken gestellt werden, nicht auf eine Rangliste der Sportler, die den Krebs besiegt haben“, sagt er über seine Haltung. Überhaupt: „Kranksein ist ein Männertabu. Noch dazu am Unterleib, dem Kern des Mannseins.“
Krankheit in Buch verarbeitet
Das Leben ohne Prostata ist ein anderes Leben – das gibt er unumwunden zu. Auch wenn heute alle Funktionen wieder in Ordnung sind und er normal leben kann. „Ich habe die Krankheit angenommen und lebe damit“, sagt er. Ihre Erfahrungen haben die beiden Brüder in ihrem Buch aufgearbeitet. Wer „Unser Leben, unsere Krankheit“ liest, erfährt nicht nur viel über die Menschen und Sportler Michael und Uli Roth, sondern auch eine Menge fundierte Informationen zum Thema Prostatakrebs.
„Wir möchten mit diesem Buch aufklären und anderen helfen. Aus Scham reden nicht viele über das Thema“, erklärt Roth. „Wir möchten darüber reden, vor allem darüber, wie wichtig Vorsorge ist. Jeder trägt Verantwortung für seinen Körper. Es gibt heute viele Möglichkeiten, Prostatakrebs rechtzeitig zu erkennen. Und das sollte man wahrnehmen.“ Natürlich habe jeder Angst, dass etwas gefunden wird. Angst vor Lebenseinschränkungen, im Rollstuhl zu sitzen, die Haare zu verlieren, inkontinent und impotent zu bleiben, oder ganz einfach zu sterben. Davon sei er nicht frei gewesen. Doch die rechtzeitige Diagnose habe ihm ein neues Leben geschenkt.
Und das genießt er. „Ich bin ein absoluter Genussmensch. Ich esse gerne Dinge, die man weglassen sollte, zum Beispiel Pasta mit Soße. Alles, was gut schmeckt“, sagt er lachend. Allerdings: Mit der Erkrankung habe sich die Intensität des Genusses verändert. „Ich habe Freude an einem guten Glas Wein. Ich genieße dabei den Augenblick.“ Auch der Lebensrhythmus habe sich verändert: „Ich organisiere meine Freizeit besser, nehme Auszeiten, lebe bewusster und gesünder. Ich habe gelernt, auf meinen Körper zu hören. Man muss die Akkus immer wieder aufladen, sonst brennt man aus.“ Schließlich sei man als Sportler und Trainer auch in einer Vorbildfunktion – und das nicht nur, wenn es um Fairness und Teamgeist geht, sondern auch um den verantwortungsbewussten Umgang mit sich selbst.
Golf als Ausgleich
Abschalten kann Michael Roth beim Golfspielen. Sein Handicap liegt bei 15. „Ich mache das aus Freude, nicht um immer bessere Leistungen zu erbringen. Ich will es beim Spielen belassen.“ Ein- oder zweimal in der Woche tummelt er sich auf dem Green. „Es ist ein toller Ausgleich, man kann Stress abbauen, regenerieren und man bewegt sich in der Natur.“ Etwas, das ihm früher nicht so viel bedeutet habe. Natürlich ist der sportliche Ehrgeiz geblieben – aber er steht nicht mehr über allem: „Uli und ich waren vom sportlichen Ehregeiz getrieben. Niederlagen wogen oft doppelt schwer.“
Heute fühlt Michael Roth sich in Melsungen zuhause: „Ich bin dort glücklich. Für mich ist das Engagement bei der MT ein langfristiges Projekt. Kontinuität ist wichtig für den Erfolg.“ Sein Ziel für das Jahr 2013: den Erfolg stabilisieren. Das ist auch der einzige gute Vorsatz, den er sich entlocken lässt. Denn eigentlich hält er von diesen nicht viel.
(Foto: Mario Zgoll)
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